Keine Gewissensbisse

Lässt sich Stress einfach wegessen? Und warum sind Schokolade und Schuldgefühle scheinbar untrennbar miteinander verwoben? Unbestritten ist: Bei jeder Mahlzeit sitzen haufenweise Emotionen mit am Tisch.

In stressigen und belastenden Situationen wächst der innere Drang nach Seelenfutter. Doch kaum sind die Kekse dann verputzt, regt sich das schlechte Gewissen. Wie eng Essen und der Umgang mit Emotionen verbunden sind, erklärt Cornelia Fiechtl im Interview mit Saskia Fechte. Fiechtl ist Klinische Psychologin mit dem Schwerpunkt „Essverhalten und Körpergefühl“ in Wien. In ihrer „ACHTSAM ESSEN AKADEMIE“ hilft sie Menschen, ein entspanntes Verhältnis zum Essen und ein gesundes Essverhalten zu entwickeln.

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Frau Fiechtl, wie stark beeinflussen Emotionen unser Essverhalten?

Im Prinzip werden der gesamte Körper und das gesamte menschliche Verhalten durch Emotionen beeinflusst, so auch das Essen. Beispielsweise steigt die Lust auf Essen bei guter Laune: In Gesellschaft langen wir meist großzügig zu und essen mit besonderem Genuss. Stress und Trauer hingegen schlagen oft auf den Appetit, wir essen weniger. Unter chronischem Stress verändern sich unsere Bedürfnisse in Richtung energiereichere Speisen. In dem Fall erfüllt Essen den Zweck, Emotionen zu regulieren. Es dient gewissermaßen als Bewältigungsstrategie.

Frustessen und Seelennahrung sind also keine Einbildung?

Wenn die innere Anspannung steigt, kann Essen eine Strategie sein, auf die Belastung zu reagieren. Durch Essanfälle in solchen Phasen versuchen viele Menschen oft unbewusst, dieser Situation entgegenzuwirken. In ausgedehntem Umfang passiert dies beim sogenannten „Binge-Eating“, dem Verschlingen von unverhältnismäßig großen Nahrungsmengen innerhalb kurzer Zeit. In kleinerem Maße mündet es in einen akuten Essdrang.

Worin besteht der Unterschied zwischen wirklichem Hunger und Essdrang?

Einfach gesagt, kommt echter Hunger aus dem Bauch, er entsteht langsam von innen. Der Essdrang ist definiert durch ein eher plötzlich auftretendes Verlangen nach ganz bestimmten Lebensmitteln, das mehr in der Mundgegend entsteht.

Wie kann ich vermeiden, bei Stress in die „Keksfalle“ zu tappen?

Wer sich solcher Automatismen bewusst wird, kann andere Methoden zur Entspannung einsetzen, zum Beispiel Meditieren, moderate Bewegung oder eine gezielte Auszeit anderer Art. Die Voraussetzung dafür ist, erst einmal zu bemerken, welche Mechanismen da in Kopf und Körper unter Stress ablaufen.

Sich das eigene Essverhalten bewusst zu machen, kann mit Übungen zum Körpergefühl gelingen. Wenn ich mir darüber klar werde, was ich in bestimmten Momenten spüre, wie ich Hunger wahrnehme und was diese Gefühle für mich bedeuten, komme ich meinen Gewohnheiten auf die Spur. Dabei kann es helfen, die Beobachtungen aufzuschreiben: Welche körperlichen Anzeichen spüre ich? Welche Gedanken sind in diesem Moment mit dem Essen verknüpft?

Müssen wir diese Selbstbeobachtung neu lernen?

Meine Erfahrung zeigt, dass viele Menschen gut spüren können, was großer Hunger bedeutet. Ebenso kennen viele das Gefühl, gar keinen Hunger zu verspüren. Die Grauzonen dazwischen sind meist schwieriger zu erfassen. Es ist kein leichter Prozess, diese für sich einzuordnen, denn allzu oft ist das Essen viel zu sehr mit Emotionen verknüpft. Zudem ist Ernährung immer ein individuelles Verhalten, keine pauschale Angelegenheit. Es gibt viele richtige Formen, sich zu ernähren und mit dem Thema Essen umzugehen. Um dorthin zu gelangen, kann professionelle Unterstützung helfen.

Warum wird Essen so oft negativ bewertet?

Ich nehme einen großen Druck seitens der Gesellschaft wahr. Die Sicht auf das Körperbild ist, insbesondere für Frauen, äußerst streng. Nicht dem Schlankheitsideal zu entsprechen, wird gleichgesetzt mit negativen Eigenschaften, Lächerlichkeit und Disziplinlosigkeit. Schlanksein bedeutet für viele automatisch Erfolg, Willensstärke und Gesundheit.

Doch solch ein Schwarz-Weiß-Denken ist weder korrekt noch sinnvoll. Es sorgt vielmehr dafür, dass den Themen Gewicht und Essen eine viel zu große Bedeutung zugemessen wird.

Welche Bedeutung hat das Körpergewicht für das Ernährungsverhalten?

Gar keine. Wir sollten uns verabschieden von einem diskriminierenden Verhalten jenen Menschen gegenüber, die Kurven haben. Der Blick auf das Essverhalten folgt einem gewichtsneutralen Ansatz. Egal, was die Waage anzeigt, die ausschlaggebende Frage lautet immer: Wie ist der persönliche Zugang zum Essen? Das Prinzip des In-sich-hinein-Spürens und bewussten Essens ist für jeden gleich hilfreich. Das Ziel ist eine gute Lebensqualität, nicht eine spezielle Kleidergröße.

Wie sieht gesundes Essverhalten aus?

Aus meiner Sicht ist ein befreiter Zugang zum Thema Essen wünschenswert. Weg von einer ständigen Bewertung von guten oder schlechten Lebensmitteln. Nicht unentwegt über Portionen oder Kalorien nachdenken, sondern ohne negative Gedanken essen. Optimal ist es, wenn ich die Kekse mit Genuss essen kann, wenn ich Lust darauf habe. Und sie nicht deshalb weglege, weil ich ein schlechtes Gewissen habe, sondern weil ich merke, dass ich genug habe. Aus ernährungsphysiologischer Sicht ist zudem natürlich ein abwechslungsreicher, vielfältiger Speiseplan wünschenswert.

Über „intuitives Essen“ finden Sie hier noch einen weiteren Artikel: Das beste Essen aller Zeiten

Informationen und Ansprechpartner:

Hilfreiche Informationen erhalten Sie außerdem bei Apothekern mit der Zusatzbezeichnung „Ernährungsberater“. Das wäre in der Flora Apotheke z.B. unsere Apothekerin Frau Carstensen. Aber natürlich steht Ihnen unser ganzes Team gern beratend zur Seite.

naturheilkunde und gesundheit, cover 11-2022
Text mit freundlicher Genehmigung der S & D Verlag GmbH. Das komplette “Naturheilkunde & Gesundheit” Heft bekommen Sie auch bei uns in der Apotheke.