Kneipp ist aktueller denn je!

Die Lehren des berühmten Pfarrers haben auch in der modernen Medizin ihre Berechtigung.

Gesunde Menschen: Das Ziel, das Sebastian Kneipp verfolgte, klingt simpel. Wie die Selbstheilungskräfte durch Anwendungen und einen gesunden Lebensstil angeregt werden und warum Kneippen mehr ist als eine alte Heilmethode, erklärt der Kneipp-Experte Univ.-Prof. Dr. med. Benno Brinkhaus im Interview. Er ist stellvertretender Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie an der Charité Universitätsmedizin Berlin und leitet den Projektbereich Komplementäre und Integrative Medizin und die Hochschulambulanz Naturheilkunde am Standort Mitte.

Von Saskia Fechte

»Kneipp hatte bereits im 19. Jahrhundert ein gutes Gespür dafür, dass Körper, Geist und Seele eine untrennbare Einheit sind.«

Herr Prof. Brinkhaus, können Sie die Grundidee der Kneipp-Therapie in wenigen Worten beschreiben?

Kneipp ist einfach zu praktizieren, traditionell, ganzheitlich, aktivierend, natürlich und somit Umwelt und Ressourcen schonend. Die Kneippschen Naturheilverfahren basieren auf den Grundlagen der antiken Medizin und wurden stetig weiterentwickelt. Sie umfassen heute fünf Elemente: Wasser-, Bewegungs-, Ernährungs- und Heilpflanzenanwendungen sowie eine gesunde Lebensordnung. Hinter dem ganzheitlichen Ansatz verbirgt sich die Erkenntnis, dass körperliche Fitness, gesunde Ernährung und Entspannung mit entsprechender Stressresistenz wichtig für die sogenannten Selbstheilungskräfte sind. So wird die Widerstandsfähigkeit, also auch das Immunsystem, gestärkt.

Die Lehre von Sebastian Kneipp ist über 100 Jahre alt. Passt sie trotzdem in die heutige Zeit?

Der ganzheitliche, gesundheitsfördernde und präventive Ansatz ist ideal, um dem Lebens- und Arbeitsstil unserer Zeit gerecht zu werden. Die Kneipp-Therapie ist in unserer digital geprägten Zeit nicht nur aktuell, sondern absolut sinnvoll und sogar zukunftsgewandt. Die Kneippschen Naturheilverfahren erleben zurzeit einen Aufschwung. Denn das Bewusstsein der Menschen für einen verantwortungsvollen, gesunden Lebensstil nimmt deutlich zu. Ebenso wie die Akzeptanz für sanfte, also möglichst nebenwirkungsarme und natürliche, Heilmethoden. Die Aufnahme des »Kneippens« in das bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO ist eine Bestätigung dieses Ansatzes, aber auch ein Auftrag, diese Tradition aufrechtzuhalten und an die Gegebenheiten der heutigen Zeit anzupassen.

Verbindet Kneipp die Schul- und die Komplementärmedizin miteinander?

Viele Ärzte und Wissenschaftler sehen inzwischen in vielen – zum Teil wissenschaftlich anerkannten – Naturheilverfahren eine ideale Ergänzung zur konventionellen Medizin. In den letzten zwei Jahrzehnten ist das Konzept einer »Integrativen Medizin« entstanden, einer sinnvollen Verbindung von Schul- und Komplementärmedizin unter Aufwertung der Arzt-Patienten-Beziehung und Berücksichtigung der wissenschaftlichen Wertigkeit. So wie sie von drei Vierteln der Patienten in Deutschland gewünscht wird. In den USA wird »Complementary and Integrative Medicine« schon seit zwei Jahrzehnten praktiziert und erforscht. Ende 2017 haben sich auch in Deutschland erstmals Kliniken, medizinische Versorgungsnetze und wissenschaftliche Institute in Baden-Württemberg zu einem »Kompetenznetz Integrative Medizin« zusammengeschlossen. Diese Entwicklung sollte mit staatlicher Unterstützung bundesweit gefördert werden. Denn aus meiner Sicht ist heute mehr denn je ein Systemwechsel im Gesundheitswesen notwendig – hin zu den Bedürfnissen und Präferenzen von Bürgern und Patienten, hin zu einer ganzheitlichen Sicht auf den Menschen, hin zu einem Fokus auf Gesundheit statt auf Krankheit. Gesundheitsförderung, Prävention und Integrative Medizin sollten integrale Bestandteile der ärztlichen Versorgung werden.

Welche gesundheitlichen Vorteile bringt die Kneipp-Therapie?

Das Behandlungsspektrum ist groß. Allein im Bereich der Hydrotherapie gibt es mehr als 120 verschiedene Anwendungen. Behandlungen mit kaltem und warmem Wasser härten ab, stärken also das Immunsystem. Physiotherapeutische Maßnahmen unterstützen die Anpassungsfähigkeit von Herz und Kreislauf, harmonisieren den Stoffwechsel und entspannen das Nervensystem. Eine bedarfsgerechte, vollwertige und möglichst naturbelassene Ernährung ist eine wichtige Voraussetzung für die Gesundheit und das Wohlbefinden. Heilkräuter haben positive Wirkungen bei Alltagsbeschwerden und sind auch in der Therapie von Krankheiten zumeist zusätzlich zur konventionellen Medizin gut einsetzbar. Sie können dazu beitragen, Medikamente wie Schlaf- und Beruhigungs-, Verdauungs- oder Schmerzmittel einzusparen, in ihrer Dosis zu verringern oder sogar zu ersetzen. Die Ordnungstherapie nach Kneipp, die sich unter anderem mit den Themen Lebens- und Zeitordnung, Gesundheitserziehung und Psychohygiene befasst, ist zentraler Bestandteil der Naturheilkunde und vermittelt das positive Zusammenwirken zwischen Körper, Geist und Seele, wie es für ein gesundes Leben erforderlich ist. Hierzu zählt auch die sogenannte Mind-Body-Medizin (MBM), besonders im Bereich der Achtsamkeit und Selbstfürsorge.

Inwieweit können Kneipp-Maßnahmen Zivilisationskrankheiten vorbeugen?

Von Sebastian Kneipp stammt die Aussage: »Vorbeugen ist besser als heilen.« Mit seinen gesundheitsförderlichen Maßnahmen können viele Zivilisationskrankheiten, etwa Bluthochdruck, krankhaftes Übergewicht und Diabetes verhindert werden. Zudem lassen sich vor allem chronische Beschwerden sowie Schmerzen lindern. Wissenschaftliche Studien bestätigen, dass Kneipps Lehre hier enormes Potenzial haben könnte. Zwingende Grundvoraussetzung für die Anwendung von Naturheilverfahren bei bestehenden Krankheitsbildern ist die Rücksprache mit dem Arzt. Grundsätzlich sollten Ärzte bei ihren Verschreibungen viel stärker auch auf naturheilkundliche Maßnahmen zurückgreifen und die ganzheitliche Betrachtung des Menschen berücksichtigen. Daher setze ich mich dafür ein, dass naturmedizinische Verfahren zum grundlegenden Bestandteil der medizinischen Ausbildung werden.

Welchen Stellenwert hat die Kneipp-Therapie in der Behandlung?

Aus meiner Sicht einen sehr großen. Im Rahmen meiner Tätigkeit konnte ich mit meinem Institutsteam an der Berliner Charité bereits mehr als 20 Projekte erfolgreich initiieren, durchführen und abschließen. Ein Beispiel: Die Ergebnisse unserer Kneipp-Pflegestudie, unter anderem vom Zentrum für Qualität in der Pflege und dem Bundesfamilienministerium unterstützt, weisen auf die Wirksamkeit naturheilkundlicher Maßnahmen in der täglichen Altenpflege hin.

Bei welchen Beschwerden erzielt Kneipp Erfolge?

Der Kneippärztebund e.V. hat nachgewiesen, dass sich bei Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen und leichtem bis mittelgradigem Bluthochdruck durch regelmäßige hydrotherapeutische Anwendungen nach Kneipp der Blutdruck senken lässt. Der Kneippsche Oberguss, der die Arme, Brust und oberen Rücken einschließt, beispielsweise, hat Einfluss auf die Lungenfunktion, die Immunabwehr und die Befindlichkeit von Patienten mit chronisch obstruktiver Bronchitis (COPD). Kohlblattauflagen wirken einer Studie zufolge schmerzlindernd bei Arthrose des Kniegelenks. Und moderates Walken mit MBM-Verfahren reduziert Beschwerden bei Stress und zeigt gute Wirkungen bei Brustkrebspatientinnen nach der primären Therapie.

Auf welche Weise integrieren Sie Kneipp im Klinikalltag?

Wir setzen die Kneippschen Naturheilverfahren auf vielfältige Weise in unserer Charité Hochschulambulanz für Naturheilverfahren ein – immer individuell auf den jeweiligen Patienten abgestimmt und häufig in Kombination mit anderen komplementären Therapiemaßnahmen und Verfahren der konventionellen Medizin. Wir können zwar nicht alle Krankheiten vermeiden, aber etwas dafür tun, dass Menschen möglichst wenig Beschwerden haben, gesundheitlich bewusst und aktiv sind und länger gesund bleiben. Die Patienten, die sich in unserer Hochschulambulanz vorstellen, lernen schnell, in diesem Sinne zu denken. Sie gehen chronische Erkrankungen selbst aktiv an, mit vielen naturheilkundlichen und komplementärmedizinischen Therapiestrategien.

Lässt sich die Kneippsche Idee auch zu Hause nutzen?

Aus meiner Sicht können alle Verfahren der Naturheilkunde zu Hause praktiziert werden. Kneipp-Anwendungen lassen sich mit wenig Aufwand in den Alltag integrieren. Sie erzeugen allein durchgeführt eher kleinere, aber in Kombination größere Wirkung. Wenn diese Verfahren regelmäßig und richtig angewendet werden, steigern sie das persönliche Wohlbefinden und erzielen eine nachhaltige, gesundheitsförderliche Wirkung. Mit wenigen Trainingseinheiten gelingt es, die körperlichen und geistig-seelischen Funktionen in Einklang zu bringen.

Was ist dabei zu beachten?

Wichtig ist die regelmäßige Anwendung unter Berücksichtigung von möglichen Nebenwirkungen und Komplikationen. Daher muss unbedingt darauf geachtet werden, die Anwendungen sach- und fachgerecht auszuführen, damit nicht ungewollt ein gegenteiliger Effekt erzeugt wird. So sind beispielsweise zu lang andauernde Kaltanwendungen zu vermeiden. Die Einweisung durch Experten oder einschlägige Fachliteratur kann eine gute Orientierungshilfe sein. Die Berücksichtigung der Ordnungstherapie ist aus meiner Sicht zentral, damit die naturheilkundlichen Therapieeffekte möglichst optimal zur Geltung kommen und somit zur Gesundheit beziehungsweise Gesundwerdung beitragen.

Bei Fragen helfen wir Ihnen natürlich gern weiter und beraten Sie.

Cover n&g special 05/20
Text mit freundlicher Genehmigung der S&D Verlag GmbH. Das komplette „special“ bekommen Sie auch bei uns in der Apotheke als Beilage in der „Naturheilkunde & Gesundheit“.